Leichtathletik-WM 2011 in Daegu:

„Einfach nur nach vorne rennen und draufdreschen“

Matthias de Zordo schlägt Top-Favorit Andreas Thorkildsen und gewinnt Speerwurf-Gold

DAEGU. Eine Handvoll norwegischer Fans stimmt die Anfeuerungsgesänge an, Matthias de Zordo sitzt auf der Bank neben der Speerwurfanlage. „Soll ich gucken, soll ich nicht gucken“, habe er sich gefragt. Er hat nicht geguckt, zu Andreas Thorkildsen, ein paar Meter rechts von ihm. Als ein im Ton abfallendes „Oaaa“ durch das weite Rund des Daegu Stadiums hallte, war ihm klar, dass der haushohe Favorit in seinem letzten Versuch im Speerwurf-Finale bei der Leichtathletik-WM in Daegu nicht mehr an ihm vorbeigezogen ist. Die 86,27 Meter aus dem ersten Durchgang haben gereicht, Gold für den 23-Jährigen aus dem Hunsrück.

Siegerpose: Matthias de Zordo im Daegu Stadium.
Foto: Wolfgang Birkenstock

Die jungen Wilden der deutschen Werfergilde haben zugeschlagen, sorgten für die Hälfte der Goldmedaillen des Deutschen Leichtathletik-Verbandes (DLV). Erst David Storl im Kugelstoßen, dann Matthias de Zordo. Beide leben von ihrem Talent, klar, von der Technik und der Schnelligkeit. „Er hat eine gute Bogenspannung und kann eine hohe Anfangsgeschwindigkeit beim Wurf erreichen“, sagt de Zordos Trainer Boris Henry. Beide Weltmeister sind, was Kraft und Athletik angeht, noch lange nicht ausgereizt. „Das ist meine Reserve, um mal auf 90 Meter zu kommen“, so de Zordo, der einräumt, nicht der Allerfleißigste zu sein. „Ich vertraue im Training meinem Bauch.“ Und der sagt ihm hin und wieder auch, etwas weniger zu machen.

Den Mann aus Langenlohnsheim in der Nähe von Bad Kreuznach als jungen Wilden zu bezeichnen, ist eigentlich nicht mehr ganz korrekt. Gut, mit 23 Jahren ist man noch jung. Aber sein Trainer Boris Henry hat mit 21 Jahren schon über 88 Meter geworfen, mit 24 Jahren erreichte er seine Bestleistung von 90,44 Meter. „Was mir nie vergönnt war, war die Nationalhymne zu hören“, schaut er zurück. Er ist bei Europa- und Weltmeisterschaften jeweils Dritter geworden.

Vor allem hat sich Matthias de Zordo mit seiner EM-Silbermedaille im vergangenen Jahr bereits in der Weltspitze etabliert und das in diesem Jahr eindrucksvoll bestätigt. Entsprechend musste der Sportsoldat, dessen Großvater von Italien nach Deutschland gekommen war, vor der WM mit einer völlig anderen Ausgangssituation klarkommen als 2010 in Barcelona. Er ist nicht mehr der Nobody, der völlig entspannt an den Start gehen kann, den niemand auf der Rechnung hat. „Den Druck habe ich vor allem in der Qualifikation gespürt, als jeder erwartet hat, dass ich locker ins Finale komme und eine Medaille hole.“

Allerdings hat Matthias de Zordo vor der WM diesen Erwartungen, die natürlich den eigenen Ansprüchen entsprechen, nicht gerade den Wind aus den Segeln genommen. Edelmetall sollte es werden, hatte er selbstbewusst verkündet. Er kam mit der Situation erstaunlich gut klar. „Er weiß, was er kann. Er ist ein absoluter Wettkampftyp“, sagt sein Teamkollege Mark Frank aus Rostock, der mit 81,81 Meter Achter des Finales wurde.

Die nach dem Qualifikations-Aus von Vadims Vasilevskis, des lettischen Weltranglisten-Zweiten, verbliebenen Top-Favoriten waren vor Matthias de Zordo an der Reihe, hätte also direkt ein Zeichen setzten können. Taten sie nicht. Sergey Makarov aus Russland, der in diesem Jahr schon auf 87,12 Meter gekommen war, tat sich schwer, mit enttäuschenden 78,76 Meter wurde er am Ende nur Zwölfter. Aber auch Olympiasieger, Europameister und Titelverteidiger Andreas Thorkildsen kam nicht in die Gänge. Der Norweger hatte Glück, noch den Endkampf der besten Acht zu erreichen.

Das Zeichen setzte dann Matthias de Zordo. „Einfach nur nach vorne rennen und draufdreschen,“ so das schlichte Motto des Linkshänders. Erster Versuch, ein Raunen im Stadion, 86,27 Meter. Er schlug sich die Hände auf die Brust, noch bevor die Weite angezeigt wurde. Eine Körpersprache, als wolle er sagen „Hey, hier bin ich, werft ihr erst mal weiter.“ Der Trainer ballte die Faust. War das schon eine Medaille? Der Sportsoldat war sich gar nicht sicher. „Nein, nicht wirklich. Bei Thorkildsen rechnet man immer damit, dass er kontert. Er in dieser Hinsicht gefährlich.“ Auch Boris Henry, den es zwischen der Pleite seiner Lebensgefährtin Christina Obergföll einen Tag zuvor und dem sich dezent abzeichnenden Erfolg seines Athleten „fast zerrissen“ hat, zweifelte noch. „Ich hoffte, es reicht für Bronze.“

Der zweite Wurf de Zordos verunglückte ein wenig. Er legte sich auf die Nase, hatte danach Probleme mit dem Knöchel des rechten Stemmfusses. Trotzdem flog der Speer auf 85,51 Meter. Auch der Wurf hätte zum Sieg gereicht. Er verließ die Anlage, ließ sich kurz ärztlich behandeln, bekam „ein Schmerzpflaster draufgemacht und ein neues Tape“. Zwei Versuche ließ er aus. Ein bisschen Sorgen machte er sich schon. „Ich dachte, was mache ich, wenn jetzt einer kontert und der Fuß weh tut.“ Die Sorge war unbegründet. Thorkildsen kam in seinem besten Wurf auf 84,78 Meter, was ihm Silber einbrachte. Bronze ging an den Kubaner Guillermo Martínez (84,30).

Als der Norweger auch im sechsten und letzten Durchgang de Zordo nicht übertrumpfen konnte, vergrub dieser nur kurz das Gesicht in seinen Händen. Er blieb ruhig, versuchte, sich auf seinen abschließenden Wurf zu konzentrieren. Was nicht mehr gelang. Gerne hätte er noch persönliche Bestleistung geworfen. „Aber das ist eine WM, da geht es um Titel.“

Er ist Weltmeister, hat die Goldmedaille um den Hals hängen, sieht sich deshalb aber nicht als besten Speerwerfer der Welt. „Heute ja. Ich habe Thorkildsen nicht auf hohem Niveau geschlagen.“ Der entthronte Weltmeister hatte erst Mitte August den Speer auf 90,61 Meter geschleudert. „Das wäre zu weit weg gewesen“, räumt auch Trainer Boris Henry ein. Gedankenspiele. Beim wichtigsten Wettkampf des Jahres war sein Schützling der Beste.

Auch nach Ende des Finales wirkte Matthias de Zordo sehr gefasst. „Das täuscht ein wenig. Ich kann es noch gar nicht realisieren. Ich weiß nicht, ob es wirklich passiert ist.“ Ist es.

Wolfgang Birkenstock