Berlin/Göttingen – Juni 2016:

„Wir verneigen uns vor Lilienthal“

Ein Gleiter des Flugpioniers wurde vom DLR im Windkanal vermessen. Vor 125 Jahren begann er in Berlin mit seinen richtungsweisenden Flügen.

Es ist eine Kurve in Form eines C, die die Wissenschaftler in Verzückung versetzt. „Wie aus dem Lehrbuch“, sagt Prof. Dr. Andreas Dillmann, Leiter des Instituts für Aerodynamik und Strömungstechnik des Deutschen Zentrums für Luft- und Raumfahrt (DLR) in Göttingen. Es geht um ein sogenanntes Polardiagramm, kurz Polare genannt, ein grafisches Werkzeug, mit dem Auftrieb und Widerstand eines Flugzeuges ins Verhältnis gesetzt werden. Lilienthal hat diese Polare erfunden. Anlässlich des 125-jährigen Jubiläums seiner Gleitflüge ließ das DLR den „Normalsegelapparat“ von 1893 originalgetreu aus Holz und Stoff nachbauen und untersuchte ihn nach allen Regeln der modernen Wissenschafts-Kunst. Ein Ergebnis war die lehrbuch-mäßige Polare des Lilienthal-Gleiters. Und es wurden auch Erkenntnisse darüber gewonnen, wie es wahrscheinlich zum tödlichen Absturz des Flugpioniers am 9. August 1896 kam.

Otto Lilienthal war der Erste, der Ende des 19. Jahrhunderts systematisch und mit wissenschaftlichen Methoden an die Fliegerei herangegangen ist. Auch er versuchte zunächst vergeblich – wie viele anderen auch –, den Vogelflug mit schlagenden Flügeln bzw. Tragflächen zu kopieren, bis er sich auf Gleitflüge konzentrierte. Zusammen mit seinem Bruder Gustav erarbeitete er sich Schritt für Schritt das theoretische und praktische Wissen, um dann über 2000 Flüge mit bis zu 250 Meter Länge mit seinen selbstgebauten Hängegleitern durchzuführen.

Dabei erkannten die Gebrüder Lilienthal, beide ausgebildete Ingenieure, die Bedeutung gewölbter Flügelprofile und entwickelten die Polare, die den Auftrieb eines Tragflügels oder eines ganzen Flugzeuges grafisch über dessen Widerstand darstellt, als aerodynamisches Werkzeug. Im Frühjahr 1891 begann Otto Lilienthal mit den praktischen Flugversuchen, drei Jahre später ließ er in Berlin-Lichterfelde einen kleinen Hügel aufschütten, von dem er aus zu seinen Gleitflügen startete. Am 9. August 1896 stürzte der 1848 in Anklam geborene Lilienthal mit einem „Normalsegelapparat“ in Stölln am Gollenberg ab, wo er seit 1894 regelmäßig Flüge durchführte, und starb einen Tag später an seinen schweren Verletzungen.

Die Polare des Lilienthal-Gleiters.
Quelle: DLR/Wolfgang Birkenstock

Lilienthal legte mit seinen theoretischen und praktischen Arbeiten die Grundlagen der modernen Fliegerei „schwerer als Luft“ – im Gegensatz zur Luftfahrt „leichter als Luft“ mit Ballons oder Zeppelinen. Er sei ein „Außenseiter“ gewesen, sagt Dr. Bernd Lukasch, Leiter des Otto-Lilienthal-Museums in Anklam. Das Luftschiff habe damals als die Zukunft der Fliegerei gegolten.

Aber Lilienthal sollte Recht behalten: Die Auftriebserzeugung mit Hilfe eines starren, profilierten Flügels, der durch Anströmung die zum Fliegen notwendige Kraftkomponente nach oben erzeugt, ist das Prinzip, nach dem seither alle Flugzeuge abheben. Auf diese Erkenntnisse griffen andere Flugpioniere zurück. Auch die Gebrüder Wright, die am 17. Dezember 1903 in ihrem schlicht „Flyer“ genannten Fluggerät in Kitty Hawk, North Carolina, zum ersten gesteuerten Motorflug der Geschichte abhoben.


Nachbau nach Originalplänen

Prof. Rolf Henke, beim DLR seit 2010 als Vorstand für den Bereich Luftfahrt zuständig und zuvor Leiter des Institutes für Luft- und Raumfahrt an der RWTH Aachen, initiierte anlässlich des 125-jährigen Jubiläums des ersten Fluges Lilienthals das Forschungsprojekt. Das Otto-Lilienthal-Museum war für den Bau des „Normalsegelapparat“ nach Originalplänen zuständig. Nun wurden Lilienthal-Gleiter schon öfters nachgebaut, aber die Beteiligten des DLR-Projektes nehmen für sich in Anspruch, dass dies erstmals historisch korrekt durchgeführt wurde. Auch wenn für die Holzkonstruktion beim Nachbau statt Weide Abacchi verwendet wurde, das aber die gleichen Eigenschaften habe, so Prof. Dr. Andreas Dillmann, der mit seinem Institut für Aerodynamik und Strömungstechnik die wissenschaftliche Leitung innehat.

Besonders wichtig sei im Hinblick auf die Luftdurchlässigkeit genau den Stoff für die Bespannung der Flügel zu finden, den auch Lilienthal vor 125 Jahren verwendet hat. Fünf Gleiter von Lilienthal existieren weltweit noch in unterschiedlichen Erhaltungszuständen, davon vier „Normalsegelapparate“. Daher konnte das Curt-Engelhorn-Zentrum Archäometrie in Mannheim eine Analyse des Originalstoffes Shirting vornehmen, die historische Weberei Egelkraut im hessischen Schwalmstadt rekonstruierte die Bespannung.

Das DLR nahm den Lilienthal-Gleiter mit einer Spannweite von 6,7 Meter, einer Flügelfläche von 14 Quadratmetern und einem Gewicht von 20 kg genau mit aktuellen wissenschaftlichen Werkzeugen unter die Lupe. Dazu zählte die Vermessung in der sogenannten „Large Low Speed Facility“ des Deutsch-Niederländischen Windkanals DNW in Marknesse, Schwerpunktversuche beim DLR in Göttingen, um Aufschluss über die Manövrierfähigkeit des Gleiters zu erhalten, und numerische Strömungssimulationen.


„Kein Konstruktionsfehler“

Fragen, die die Wissenschaftler so klären wollten, waren die nach der aerodynamischen Qualität, der Stabilität, der Sicherheit und den Flugeigenschaften des Gleiters, wie weit und wie schnell Lilienthal damit fliegen konnte und nicht zuletzt auch die nach den möglichen Ursachen seines Absturzes.

„Es gibt keinen Hinweis auf einen Konstruktionsfehler“, stellt Prof. Dillmann klar. Im Gegenteil: Der Gleiter zeige gutmütige Flugeigenschaften ohne aerodynamische Tücken und sei „um alle drei Achsen eigenstabil“. Man spricht von einer stabilen Auslegung, wenn ein Flugzeug nach einer Auslenkung aus dem Gleichgewichtszustand automatisch, also ohne Eingreifen des Piloten, wieder in diesen ausgetrimmten Gleichgewichtszustand zurückkehrt.

Dass Lilienthal dennoch tödlich abstürzte, habe, so vermutet Dillmann, an einem damals noch nicht bekannten thermischen Phänomen namens Sonnebö und der eingeschränkten Steuer- und Manövrierfähigkeit des „Normalsegelapparates“ gelegen. Bei einer Sonnenbö löst sich eine Warmluftblase vom Boden. Lilienthal ist, so die Überlegung, in die Aufwindzone geraten, der Gleiter hat sich so weit aufgerichtet, dass die Strömung am Flügel abriss und der Flugpionier aus 15 Meter Höhe abstürzte. So würde, wie Dillmann erläutert, grundsätzlich jedes Flugzeug in einer derartigen Situation reagieren, doch heutige Modelle könnten die Lage korrigieren. Lilienthal hat das wohl auch versucht, indem er die Beine nach vorne warf, um die Nase seines Gleiters nach unten zu drücken. Doch die Steuerung, die ausschließlich auf der Verlagerung des Körpers basierte, war nicht wirksam genug. „2000 Mal ist es gut gegangen, einmal nicht. Er hätte an diesem Tag nicht fliegen dürfen“, resümiert Dillmann.


Zahlen und Fakten

Obwohl es schon ab einem Anstellwinkel von fünf Grad „zu massiven Ablösungen“ am Flügel komme, wie Dillmann erklärt, sei der Gleiter aber bis 16 Grad noch stabil und steuerbar. Oberhalb dieses Wertes bricht der Auftrieb zusammen, wie die Polare zeigt. Bei dem Absturz war der Anstellwinkel daher offensichtlich größer. Das beste Gleiten ergab sich für den „Normalsegelapparat“ bei einem Anstellwinkel von zwei Grad. Lilienthal erreichte diesen Anstellwinkel in einer gehockten Position, wie sie auf vielen Fotos zu sehen ist. Dabei haben die Wissenschaftler eine Gleitzahl von 3,6 ermittelt. Die Gleitzahl beschreibt, wie gut ein Flugzeug antriebslos gleiten kann. Moderne Segelflugzeuge kommen auf Werte von 50 bis 60, Verkehrsflugzeuge auf etwa 15.

Bei einer Gleitzahl von 3,6 kann der Lilienthal-Flieger bei 10 Meter Höhenverlust 36 Meter in der Horizontalen zurücklegen. Die daraus errechnete maximale Flugweite vom damals 70 Meter hohen Gollenberg von 250 Meter deckt sich exakt mit den von Lilienthal erreichten und dokumentierten Flügen. „Das passt so gut, dass man schon wieder stutzig wird“, so Dillmann. Ebenso entspricht die vom DLR bestimmt Fluggeschwindigkeit von 14 m/s (50 km/h) den Angaben Lilienthals, dem der Professor bescheinigt, über das notwenige Wissen verfügt zu haben, ein vollwertiges Flugzeug zu bauen. „Man muss vor ihm den Hut ziehen.“

„Wir verneigen uns vor Lilienthal“, zeigt sich auch Henke angetan von den Untersuchungsergebnissen und den Leistungen des Flugpioniers. „Er war viel, viel besser als viele gedacht haben.“ Das DLR sehe sich in seiner Tradition. „Natürlich können heutige Flugzeuge viel mehr“, so der DLR-Vorstand, aber alles basiere auf dem, was Lilienthal gemacht habe.


Erstes Serienflugzeug der Welt

Der „Normalsegelapparat“ war auch das erste Flugzeug, das in Serie gefertigt und verkauft wurde – für 500 Mark. Gebaut wurde der Gleiter in der „Maschinenfabrik von O. Lilienthal – Berlin S. Köpenickerstrasse 113“ im Ortsteil Rudow im Süden der Stadt. Neun Käufer sind namentlich bekannt. Dazu zählen der US-amerikanische Verleger William Randolph Hearst, Nikolai Jegorowitsch Schukowski, der als Vater der russischen Luftfahrt gilt, oder der Luftfahrtpionier Alois Wolfmüller, der den „Normalsegelapparat“ umbaute und erstmals mit einer mechanischen Steuerung ausstattete.

Ein würdiger Höhe- und Endpunkt der Erforschung des „Normalsegelapparat“ wäre natürlich ein richtiger Flug. „Das ist noch offen“, so Henke. Freiwillige, die mit dem historischen Flieger durch die Luft gleiten wollen, gibt es jedenfalls genug.

Wolfgang Birkenstock