Türkei - März 2013:

Leben vom Olivenöl, leben für das Olivenöl

Das Produkt aus dem kleinen Dorf Senköy gilt als eines der besten aus der Türkei. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen des Olivenanbaus werden für Kleinbauern wie Fatma und Sabri Simsek immer schwieriger. Der Tourismus in der Region ist wenig entwickelt.

„Früher war das hier der Garten Eden“, sagt Fatma Simsek. So könnte man sich das Paradies auch heute noch vorstellen. Sonnendurchflutete Olivenhaine, sattgrünes Gras zwischen malerischen Felsen, weiße Blumenfelder – Frühjahr in Senköy, einem kleinen Dorf im Südwesten der Türkei in der Nähe von Milas. Sabri und Fatma Simsek sind Olivenbauern, nennen etwa 1000 Bäume ihr Eigen. Die wirtschaftlichen Voraussetzungen für den Olivenanbau sind mittlerweile nicht mehr ganz so paradiesisch. Die Erträge stagnieren, die Arbeiter werden immer teurer, zudem litt die diesjährige Ernte unter schlechtem Wetter. Aber das Senköyer Öl gilt als eines der besten aus der Türkei.

So wurde Olivenöl aus der Region Milas im vergangene Jahr vom International Taste & Quality Institute in Brüssel ausgezeichnet. Und bei der Landwirtschaftsmesse Ende Februar in Milas lag das Öl aus Senköy im regionalen Vergleich an der Spitze. „Das ist nichts Besonderes, wir gewinnen jedes Jahr“, sagt Mustafa Yilmaz selbstbewusst. Er besitzt die größere der beiden Ölmühlen im Ort, verarbeitet etwa zwei Drittel der geernteten Oliven. 400 Tonnen Öl, so schätzt er, wird er in diesem Jahr produzieren. Ohne die wetterbedingten Einbußen hätten es auch 500 Tonnen sein können. Insgesamt werden in der Türkei pro Jahr etwa 1.820.00 Tonnen Oliven geerntet, von denen 1.340.000 Tonnen für die Ölproduktion genutzt werden. 180.000 Tonnen Olivenöl kommen dabei heraus, damit liegt das Land auf Platz fünf in der Welt. Die größten Produzenten sind Spanien mit jährlich etwa 1,5 Mio. Tonnen und Italien mit knapp 600.000 Tonnen. Von den über 30.000.000 Hektar, die in der Türkei landwirtschaftlich genutzt werden, dienen 800.000 Hektar mit 120 Mio. Bäumen dem Olivenanbau. Über 86% der türkischen Olivenbauern bewirtschaften weniger als 10 Hektar. Der Anbau ist in den anderen Ländern ähnlich kleinteilig strukturiert, nur Spanien hat einen deutlich größeren Anteil an großflächigerem Anbau.

Das kleine Dorf Senkoy liegt in 300 Meter Höhe. Im Hintergrund die mächtigen Berge des Latmos-Gebirges.
Foto: Wolfgang Birkenstock


Mobilfunkmast höher als das Minarett

Es ist kein Problem, an Senköy vorbeizufahren. Eine unscheinbare Straße, eher ein besserer Feldweg, geht von der Überlandstraße D525, der für deutsche Verhältnisse eher spärlich befahrenen Hauptverkehrsader zwischen Izmir und Bodrum, links ab. Die Straße führt erst durch das Dorf Etrenli, dann geht es steil über Serpentinen den Berg hinauf. Senköy liegt auf gut 300 Meter Höhe, hat ähnlich viele Einwohner, ein paar Dutzend Häuser und eine Moschee. Fünfmal am Tag wird von dort zum Gebet gerufen. Das gute Trinkwasser holen die Bewohner jeden Tag vom Brunnen. Die älteren Frauen tragen traditionell und völlig selbstverständlich das Kopftuch. Die Männer treffen sich im Teehaus am Dorfplatz. Bei den Diskussionen gibt es im Frühjahr nur ein Thema: Die Olivenernte. Die Straßen sind holprig und schmal, gerade einmal ein Auto passt durch. Das Leben in Senköy ist schlicht und einfach. Doch auch hier in der türkischen Provinz ändern sich die Zeiten. Der Mobilfunkmast übertrifft in der Höhe mittlerweile das Minarett.


Olivenernte ist Handarbeit

Mit ihrem über 20 Jahre alten gasbetriebene Renault Torros rumpeln Sabri und Fatma Simsek über die kleinen einspurigen Wege zwischen den scheinbar endlosen, aber doch sehr kleinteiligen Olivenpflanzungen, die die Abhänge rund um Senköy nahezu komplett bedecken. Wie fast jeden Tag in der Erntezeit. 30, maximal 40 km/h, mehr lassen die buckligen Pisten kaum zu. Felsen, Schlaglöcher. Da ist ein robustes Fahrzeug gefragt, ein neues Auto lohnt nicht. Zu tun gibt es immer etwas auf den Olivenhainen. Maschinen können angesichts des abschüssigen und zerklüfteten Geländes nicht eingesetzt werden. Etwas anderes als Oliven lässt sich hier sinnvoll nicht kultivieren, und deren Ernte ist Handarbeit. Am Boden um den Baum werden Planen ausgelegt und dann die Äste geschüttelt, bis die Oliven herunterfallen und aufgesammelt werden können. Dieses Schütteln erfolgt entweder vom Boden aus mit einem Stock oder einem elektrisch betriebenen „Schüttler“. Oder indem man auf den Baum klettert.

Zwischen den Olivenbäumen steht eine alte Steinhütte. Während Sabri Simsek mit der Hacke einen Wasserabfluss begradigt, erinnert sich Fatma. „Da bin ich geboren“, erzählt sie. Früher war es üblich, im Sommer nicht im heißen Dorf zu leben, sondern in kleinen Hütten direkt am Arbeitsplatz – den Hainen, den Feldern. Vor einigen Jahrzehnten war die Landwirtschaft in Senköy noch etwas breiter aufgestellt. Auf kleine Terrassen wurden zur Selbstversorgung Getreide und Gemüse angebaut. Dazu kam eine nicht wirklich umfangreiche, aber doch größere Tierhaltung. Heute haben manche Familien noch ein paar Kühe oder Hühner, mehr nicht. „Wer soll das machen?“, fragt Fatma Simsek. Wie in vielen anderen Dörfer auch wird die Bevölkerung Senköys immer älter. Die jungen Menschen ziehen weg, leben lieber in der Stadt, arbeiten dort, studieren. Zurück bleiben die Älteren, die schon immer da waren.

Auch die beiden Simseks sind schon über 70 Jahre alt, können nicht mehr so viel wie früher selbst bei der Ernte machen. Oliven werden im zweijährigen Rhythmus geerntet. Auf „acht bis zehn Tonnen“, so Simsek, komme er in einer guten Saison. Sorte Memecik. In diesem Jahr, schätzt er, mögen es fünf bis sechs Tonnen sein. „Ohne den Wetterschaden wäre es acht Tonnen geworden.“ Das klingt trotzdem noch nach einer brauchbaren Ausbeute. Aber das schlechte Wetter, Hagel und Frost, dazu viel Regen in der Erntezeit, drückt nicht nur die Menge der geernteten Oliven. Auch der Ertrag sinkt. „Aus 60 Kilo Oliven werden im Schnitt 15 Kilo Öl, in diesem Jahr aber nur 7 bis 11 Kilo.“ Und die Bauern waren im März immer noch auf den Olivenhainen unterwegs, eigentlich sollte die Ernte wie üblich Ende Februar geschafft sein. Das hängt auch mit dem Mangel an Erntehelfern zusammen. Besser gesagt: Dem Mangel an bezahlbaren Erntehelfern.

Vier Türkische Lira (TL) bekomme er in diesem Jahr für ein Kilo Öl, rechnet Simsek vor. Der Preis werde an der Ölbörse in Izmir festgelegt und sei seit Jahren in etwa gleich geblieben. Wer die Ernte überwiegend selbst erledigen kann, könne davon ganz gut leben, sagt Sabri Simsek. „Aber die Arbeiter werden immer teurer. Für alle, die auf Hilfe angewiesen sind, war dieses Jahr ganz schlecht.“ So standen vor allem die älteren Bauern in dieser Saison vor zwei Alternativen, die keine sind: Entweder die Arbeiter einstellen und nichts verdienen oder die Oliven verfaulen lassen und auch nichts verdienen. Letzteres kommt eigentlich nicht in Frage. „Viele der Bäume habe ich selbst gepflanzt“, betont Sabri Simsek. Da hängt Herzblut dran. Leben, soweit es geht, vom Olivenöl, leben für das Olivenöl. Manchmal nimmt sich Simsek auch einen Pächter, der für die Ernte einzelner Haine verantwortlich ist. Aber so recht lohnend ist das auch nicht, die potenziellen Pächter sind in der Regel in der besseren Verhandlungsposition, die meisten Kosten bleiben an den Bauern hängen. Sabri Simsek ist froh, dank seiner Rente finanziell nicht von der Olivenernte abhängig zu sein. Er hat viele Jahre auch in Deutschland gearbeitet.

Im Frühjahr steht die Natur rund um Senkoy in voller Blüte.
Foto: Wolfgang Birkenstock


Die Natur meint es gut mit Senköy

Sabri Simsek steht neben den Maschinen der Mühle und überwacht, wie aus seinen Oliven Öl wird. Neun Prozent des flüssigen Erzeugnisses erhält Mühlenbesitzer Mustafa Yilmaz für die Verarbeitung. In Milas bekäme Sabri Simsek möglicherweise bessere Konditionen. „Aber man kennt sich halt im Dorf.“ Den Rest des Öls verkauft er bis auf ein paar Dutzend Liter für den Eigenbedarf an Yilmaz. Die Simseks könnten mehr aus ihren Hainen herausholen. Sie spritzen und düngen nicht. Andere im Dorf machen das. „Mit Düngung kann man den Ertrag verdoppeln“, sagt Sabri Simsek. Finanziell attraktiv wäre das für ihn nicht: Dünger kostet Geld und mehr Arbeiter bräuchte er auch.

Das Öl aus Senköy habe einen guten Ruf, so Mustafa Yilmaz. „Wenn ich in Izmir bei meinem Zwischenhändler anrufe, dann wird mir das Öl sofort abgenommen. Er muss sich keine Sorgen machen, dass das Öl verunreinigt oder von schlechter Qualität ist. Das Öl aus Senköy wird als hochwertig angesehen.“ Aber es könnte noch besser sein. So etwas wie Qualitätsmanagement oder eine optimierte Weiterverarbeitung gibt es nicht. Zum Beispiel ist es wichtig, die Oliven möglichst schnell nach der Ernte zu Öl zu pressen. Das scheitert bisher aus logistischen und organisatorischen Gründen. Sinnvoll wäre es auch, die Ernte aus besonders guten Lagen separat zu verarbeiten, statt alles zusammenzuwerfen. Dass das Öl dennoch von so hoher Qualität ist, zeigt: Die Natur meint es gut mit Senköy.

Wohin der Zwischenhändler, der das Olivenöl auch verfüllt oder es raffiniert, wenn die Qualität einmal nicht so gut ist, seine Ware weiter verkauft, weiß Mustafa Yilmaz nicht. Das gute Senköyer Öl fließt anonym in den Wirtschaftskreislauf. Wenn es nach Yilmaz geht, soll sich das bald ändern. Er plant die Anmeldung einer Marke. „Spätestens in einem Jahr ist es so weit. Das ist viel Papierkram.“

Im Frühsommer, wenn es in der Türkei zu heiß wird, kommen Fatma und Sabri Simsek meistens nach Deutschland. Im Supermarkt finden sie dann vielleicht ihr eigenes Olivenöl. Und im Herbst geht es zurück nach Senköy. Im November beginnt die neue Ernte im Paradies.

Wolfgang Birkenstock



Aus Seyhköy wurde Senköy

Das Gebiet im Südwesten der Türkei, das heute in etwa die Provinz Mugla bildet, nannte man im Altertum Karien. Im zweiten Jahrtausend vor Christus wurden die Karer in alten assyrischen und hethitischen Texten erwähnt. Auch in der Ilias Homers werden sie genannt.

Karien wurde von vielen Kulturen beeinflusst. Griechen wanderten zu Beginn des ersten vorchristlichen Jahrtausends ein, im 6. Jahrhundert v.Chr. fiel es an das Altpersische Reich, damals eine Weltmacht. In Halikarnassos, dem heutigen Bodrum, entstand mit dem Mausoleum des namengebenden Königs Maussolos eines der sieben antiken Weltwunder. 334 v.Chr. eroberte Alexander der Große Karien, es folgten 200 Jahre hellenistischer Prägung, bevor es ins Römische Reich eingegliedert wurde. Die Region war eine der frühchristlichen Keimzellen, bis ins 12. Jahrhunderts gehörte Karien zum Byzantinischen Reich, wurde dann von den Seldschuken erobert. Im 14. Jahrhundert kam es an das aufstrebende Osmanische Reich.

Der Zeustempel in Euromos.
Foto: Wolfgang Birkenstock

Über die Geschichte Senköys ist hingegen wenig bekannt. Ruinen antiker Gebäude wurden am Ortsrand gefunden. Wer da einmal was wann gebaut hat – keiner weiß es. Es wurde auch eine alte Steinplatte mit einem Kreuz entdeckt, ein Hinweis, dass spätestens in der byzantinischen Epoche hier schon Menschen lebten. In diese Zeit ist wohl auch der Wachturm auf einem Bergsporn einzuordnen, von dem noch die Fundamente zu erkennen sind.

Senköy bedeutet „freundliches Dorf“. Bis zum Ende des Osmanischen Reiches nach dem Ersten Weltkrieg hieß der Ort noch Seyhköy – „Dorf des Scheiches“, benannt nach dem als Heiligen verehrten islamischen Geistlichen Seyyid Mehmet. Aus den Inschriften des 1620 ihm zu Ehren erbauten Mausoleums geht hervor, dass Seyyid Mehmet aus Buchara stammte, heute in Usbekistan gelegen, und 1468 in Bursa starb. Da er seine Wirkungsstätte im damals deutlich größeren Seyhköy hatte, wurde er hier bestattet. In der osmanischen Zeit, vermutlich im 19. Jahrhundert, war der Ort für einige Jahrzehnte entvölkert, nachdem er von Räubern heimgesucht wurde und 70 „Haci“, also Mekka-Pilger, auf Befehl des Sultans an einem großen alten Baum im Ort erhängt wurden, weil sich die Bewohner gegen als willkürlich empfundene Steuern gewehrt hatten. So wird es zumindest in alten Legenden erzählt. Eines ist immerhin sicher: Seit vielen hundert Jahren wird hier Olivenöl hergestellt.

Der Tourismus ist der wichtigste Wirtschaftsfaktor der Provinz Mugla, allerdings sind die touristischen Hochburgen im Süden, an der Mittelmeerküste, in Bodrum oder Marmaris. Die Region um Milas herum ist, von der Stadt selbst als Wirtschafts- und Einkaufszentrum einmal abgesehen, landwirtschaftlich geprägt. Schwerpunkt ist natürlich das Olivenöl. Touristisch ist die Gegend hingegen kaum erschlossen. Was auch ihren Reiz ausmacht. Zum Beispiel Euromos. Nur ein paar Kilometer von Senköy entfernt, an der D525 Richtung Milas, liegen Trümmer am Straßenrand, Reste antiker Mauern und Säulen. Hinter ein paar Bäumen taucht die Ruine eines Zeustempels auf, 16 der etwa zehn Meter hohen Säulen stehen noch aufrecht. Euromos, eine vor etwa 2000 Jahren weitläufige und bedeutsame Stadt, ist archäologisch kaum erforscht. In Olivenhainen findet man mit etwas Mühe die Überbleibsel des Theaters. Auch hier, zwischen den Ruinen, werden im Frühjahr Oliven geerntet.

Schaut man von Senköy in die andere Richtung ins Tal, nach Nordwesten, sieht man den Bafa-See, in dem man im Sommer natürlich auch baden kann. In der Antike war er Bestandteil des Latmischen Meerbusens und mit dem Mittelmeer verbunden. An seinen Ufern blühte damals Herakleia. Der Weg dorthin von der D525 ist kaum besser als die Straßen in Senköy. Teile Herakleias sind heute im See versunken, Ruinen ragen aus dem Wasser. Vor dem Athene-Heiligtum, über einen Trampelpfad zu erreichen, weiden Kühe. Die Reste der kaum gepflegten Agora grenzen an den Schulhof des Dorfes Kapikiri, das mitten in den Ruinen liegt. Die einst wuchtige hellenistische Befestigung der Stadt verliert sich in der grandiosen Felslandschaft des Latmos. Zur Burg aus byzantinischer Zeit, auf einer Halbinsel gelegen, stapft man im Frühjahr durch Schlamm und Büsche. Wer sich die Mühe macht, findet nicht nur die Reste der Burg selbst, sondern auch einen schönen Blick über den See und alte, in den Fels gehauenen Begräbnisstellen. Tiefer im Latmos-Gebirge gibt es bis zu 8000 Jahre alte Felsmalereien, zu denen in Kapikiri Touren angeboten werden. Es existieren in der Gegend nur kleine und eher bescheidene Hotels oder Pensionen. Das alles ist eher etwas für den neugierigen Individualtouristen.

Die Gegend um den Bafa-See steht unter Naturschutz, die Provinz-Präfektur will einen sanften Tourismus fördern. Die Busse der Reiseveranstalter fahren, wenn es um die Besichtigung antiker Zeugnisse geht, nach Ephesos, Milet und Didyma, allesamt sehr beeindruckend und von Senköy ein bis eineinhalb Stunden mit dem Auto entfernt.

Wolfgang Birkenstock